Erste Schritte und Neubeginn

Entlassen in die Freiheit, mit Gefühlen zwischen Hoffnungseuphorie und Schrecknis, mit einem enormen Potenzial an Tatkraft und Willen, das Neue zu meistern, zu bestehen, zu überleben auch. Anfangen: das Neue: Gesetze, Verwaltung, Geld, Steuern, die vor allem; buchstabieren: aquirieren…

Begegnungen auf glattem Parkett: die Gebliebenen und Gekommenen. Gesprächsfäden finden.

Sich erinnern: Engagement für eine Sache. Das hatten die einen, weil stets erfolglos, vergessen und abgetan; die anderen gelebt, in eng begrenzten Räumen, fast privat: die Gebliebenen. Für die Gekommenen weithin Selbstver­ständlichkeit. Nun also Aufbruch mit der Gewissheit, etwas zu all dem Neuen beitragen zu wollen und zu können, der Wunsch, fördernd einzugreifen, aktiv mit Lust … die Gewissheit, es ist unsere gemeinsame Gesellschaft, unser Land und unsere Stadt: Leipzig.

Es ist die alte Sehnsucht in uns, oft vergessen und verschüttet: Aufgaben gemeinsam zu bewältigen, die Sehnsucht nach Gelingen und gemeinsamer Freude darüber – nach Harmonie…

Der Wunsch, es möge einen Kreis aktiver Leipziger Bürger geben, die bei regelmäßigen Treffen Fragen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung miteinander erörterten – einen „Leipziger Kreis“ -, zeigt wohl deutlich das Bedürfnis nach Identitätsbildung und -förderung nach dem Ende der DDR, in den Anfangsjahren der neuen Bundesrepublik Deutschland.

Es ist der verständliche Wunsch nach der zu Ende gegangenen geschlossenen Gesellschaft der DDR und dem Angebot einer prinzipiell offenen Gesellschaft der neuen Bundesrepublik, eine funktionierende, urbane und zivile Verbindung gleich gesinnter Menschen zu schaffen, die auch wirtschaftliche und kulturelle Verantwortung in unserer Stadt übernehmen würde.

Im Oktober 1993 begannen erste Gespräche darüber unter den Präsidenten der Handwerks- und Industrie- und Handelskammer, Joachim Dirschka und Dr. Rudolf Sommerlatt, sowie Paul Kosin, dem damaligen Leiter der BMW-Niederlassung Leipzig, und dem damaligen Pressesprecher der Handwerkskammer, Bernd Mühling.

Als Regierungspräsident Steinbach in die Überlegungen einbezogen wurde, im Dezember 1993, erinnerte er an die Gesellschaft Harmonie, gegründet 1775/76, und schlug statt einer Neugründung die Fortführung und Belebung dieser altehrwürdigen Leipziger Gesellschaft vor.

Diese Idee fand rege Zustimmung, sodass Anfang 1994 bei einem Treffen im Hause Steinbach in Rötha mit Dr. Rudolf Sommerlatt, Joachim Dirschka, Bernd Mühling sowie dem Senior der „Vertrauten Gesellschaft“, Dr. Hans-Achim Schubert, der Beschluss gefasst wurde, einen Gründungskreis zur Fortführung der alten Leipziger Harmonie zu bilden.

Die Teilnahme von Dr. Hans-Achim Schubert war insofern von großer Wichtigkeit, weil sich mit ihm die jahrhundertealten Beziehungen zweier Leipziger Gesellschaften wieder zusammenfügten. Er übergab dabei die alte Satzung der Harmonie, die nun künftig Grundlage für die weitere Arbeit sein sollte, und engagierte sich besonders bei den oft schwierig zu begehenden Pfaden der Verwaltung.

Gründungsversammlung, erster Vorstand und Satzung

Die Fortführung der alten Gesellschaft Harmonie, gleichzeitig die Geburtsstunde der neuen, erfolgte am 19. August 1994. In einer Gründungsversammlung mit

  • Ingbert Blüthner-Haessler,

  • Joachim Dirschka,

  • Dr. Rudolf Sommerlatt,

  • Walther Flemming (Altmitglied),

  • Bernd Mühling,

  • Wolfgang Philipp,

Dr. Hans-Achim Schubert und Walter Christian Steinbach wurden zur letzten Satzung von 1921 einige leichte, den heutigen Verhältnissen entsprechende Änderungen vorgenommen und beschlossen:

§1 Die im Jahre 1775 gegründete „ Gesellschaft Harmonie“, welche am 1. Oktober 1887 mit der im Jahre 1819 gegründeten Gesellschaft „ Erholung“ vereinigt wurde, ist im Jah­re 1994 nach zwangsweiser Unterbrechung durch das DDR-Regime wiedererstanden und führt wie bisher den Namen „Gesellschaft Har­monie 1775 e. G .“ Sie hat ihren Sitz in Leipzig.

§2 Der Zweck der Gesellschaft ist die Pflege der Geselligkeit, sowie Auseinandersetzung mit aktuellen Themen aus der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur. Die Ge­sellschaft ist parteilich und konfessionell neutral.

§39 Die Satzung trat am 19. August 1994 in Kraft.

Der Vorstand setzte sich wie folgt zusammen:

Vorsitzender:

Dr. R. Sommerlatt, Präsident der IHK zu Leipzig, Kaufmann

Schatzmeister:

Joachim Dirschka, Präsident der HWK zu Leipzig, Kaufmann

Stellvertretende Vorsitzende:

Walter Christian Steinbach, Regierungspräsident Leipzig

Dr. Hans-Achim Schubert, Kaufmann

Ingbert Blüthner-Haessler, Kaufmann.

In den Aufsichtsrat wurden gewählt: Walther Flemming, Horst Lieberoth-Leden, beide Altmitglieder, und Wolfgang Philipp.

Die enormen Schwierigkeiten, die der tatsächlichen Weiterführung vorangingen, sollen hier nur angedeutet werden.

Die im Jahre 1775/76 gegründete Gesellschaft Harmonie war im Genossenschaftsregister des Amtsgerichts Leipzig eingetragen und wurde am 14. Juni 1948 auf Verlangen des Polizeipräsidiums Leipzig im Genossenschaftsregister gelöscht. Gegen diese widerrechtliche Verfahrensweise wurde bereits zwei Tage später durch Dr. W. Schomburgk Einspruch erhoben, der jedoch im März 1949 durch die 14. Zivilkammer des Landgerichts Leipzig endgültig zurück gewiesen wurde. Allein durch die Tatsache, dass es mit Horst Lieberoth-Leden und Walther Flemming noch zwei Altmitglieder gab, die von Rechts wegen antragsberechtigt waren, konnte mit Beschluss des Amtsgerichts Leipzig vom 20. Mai 1996 der Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 11. März 1949 aufgehoben und die Löschung im Vereinsregister vom 14. Juni 1948 gelöscht werden.

Nach verschiedenen Beanstandungen einzelner Satzungsteile durch das Amtsgericht, jedem Vereinsgründer hinlänglich bekannt, erhielt die Gesellschaft Harmonie mit der gültigen Satzung vom 24. Oktober 1996 ihre vereinsrechtliche Fundierung durch den Eintrag ins Vereinsregister am 3. März 1997.

Die Frage nach dem Verbleib des früheren Vermögens des Gesellschaft Harmonie, im Wesentlichen bestehend aus der Immobilie Roßplatz 5b, im Kriege ausgebombt und zerstört, gestaltete sich als extrem schwierig und ist noch nicht abgeschlossen.

Leben mit der Harmonie 1994 bis 1996

1994

Am 19. August 1994 erfolgte die Wiederbegründung mit einer Presseinformation.

Die Vorbereitungen zur Eintragung ins Vereinsregister sowie Vorschläge zur Klärung der Vermögensfragen wurden fortgeführt.

Im Mittelpunkt aller Überlegungen standen inhaltliche Fragen und Fragen des künftigen Stils der Zusammenkünfte. Themenkomplexe wurden zur Diskussion gestellt. Festgelegt wurde auch die Verbindung zur Vertrauten Gesellschaft durch Einladungen. Modalitäten wie Beitrags- und Spendengestaltung, auch die vorläufige Festlegung der Mitgliederzahl auf 50 Personen fanden die Zustimmung der Mehrheit.

Ein geeignetes Lokal für die Zusammenkünfte zu finden, wird die alte, neue Harmonie, wie schon seit 225 Jahren, ohne nennenswerte Unterschiede beschäftigen! Vorschläge für neue Mitglieder wurden gemacht, Veranstaltungspläne entstanden. Vereinbart wurde, sich an jedem ersten Donnerstag im Monat in einem Leipziger Lokal zu treffen. Diese Gesellschaftsabende sollten in der Mehrzahl von einem Thema begleitet sein.

1995

Es war das erste Jahr mit einer schönen, interessanten Veranstaltungsreihe. Erstmals verbrachten Mitglieder und Gäste der Harmonie ein ganzes Wochenende zusammen im Schloss und Umgebung von Machern. Die Schlosstouren, auch fürderhin durch Herrn Mühling mit viel Engagement organisiert, finden fortan begeisterte Teilnehmer und werden zu einer schönen Tradition.

Ein Gewandhauskonzert wurde besucht, ein Klavierabend mit Emmanuel Ax der Reihe „Blüthner-Soireen“ für Kammermusik im Festsaal des Alten Rathauses genossen. Gern angenommen wurden anschließende kleine Essen mit einem Glas Wein und Gesprächen zum Ausklang.

Das „Weiße Haus“ in Markkleeberg, vormals im Besitz der Familie Herfurth, mit kultur- und kunstgeschichtlicher Führung durch Herrn Dr. Hocquel kennen zu lernen, interessierte ebenso, wie eine Tagebaubefahrung im Leipziger Südraum, besonderes „Kind“ von Walter Christian und Brigitte Steinbach. Die beiden begründen in Anlehnung an die berühmten „Sommervergnügungen“ der Harmonie Sommergartenfeste in ihrem romantischen Garten, als zugegebenermaßen schwachen Abglanz der herrlichen historischen Festivitäten. Wer weiß – vielleicht gibt es ja Steigerungen?!

1996

„Möglichkeiten und Grenzen der natürlichen und künstlichen Intelligenz beim Einsatz in der Wirtschaft“ war das Thema, mit dem durch Prof. Wolfgang Lassmann, Halle, stärker Einblick in Wissenschaft und Forschung genommen wurde, gleichzeitig der Blick der Harmonie auf den wichtigen Raum Mitteldeutschland gelenkt wurde, der uns später noch beschäftigen wird.

Der Kunst- und Museumsstandort Leipzig unter fachkundiger Führung (Dr. Guratzsch) samt einem Blick hinter die Kulissen des Museums fand Liebhaber ebenso wie der Ausklang auf der Dachterrasse des neu erbauten Regierungspräsidiums mit unvergessenem Sonnenuntergang und einem Rundblick über das abendlich glänzende Leipzig.

Weniger romantisch ging es zu bei einem Betriebsbesuch des damals im Bau befindlichen Braunkohlekraftwerks Lippendorf. Walter Christian Steinbach hat mit seinen, freilich auch umstrittenen, Bemühungen um eine Revitalisierung des Südraums Leipzig, großen Anteil am Neubau des Kraftwerks. Begeistert waren alle Teilnehmer dieser Be­sichtigung von den unermesslichen Dimensionen des neuen Kraftwerkes.

Die BMW-Niederlassung Leipzig mit ihrem Leiter, Dieter Steffen, brachte ein ganz anderes Kolorit in die Palette der Veranstaltungen: im 7er BMW das Navigationssystem testen, ein Fahrzeugtest im neuen Z3 und die Besichtigung der Diagnosestation interessierte natürlich auch unsere jungen Leute, die im Übrigen gern zu Veranstaltungen eingeladen werden.

Schloss Trebsen war Ziel der Schlosstour 1996. Ein Zentrum für Handwerk und Denkmalpflege ist hier zuhause. Berufsbegleitend können hier Fachabschlüsse als Stukkateur oder Restaurator für das Handwerk getätigt werden. Kurt Schoop, Retter der Leipziger Messe und ihr erster Geschäftsführer nach der Wende, beschloss mit rheinisch­frohnatürlichen „Lebenserinnerungen eines Managers“ diesen Ausflug.

Dass Söhne die Unternehmen ihrer Väter präsentieren, ist ein Kinderspiel – oder? Das belegten jedenfalls Thomas Knüpfer mit der Vorstellung des Unternehmens Gerischer und Schröder und Dr. Christian Blüthner-Haessler, der über die bekannte Pianofortefabrik Blüthner berichtete, eindrücklich an einem weiteren Abend.

Schneller als „Schall und Rauch“ fliegt die „Concorde“. Und sogar noch schneller als diese war zunächst der schöne Gedanke von Walter Christian Steinbach ausgeträumt, ein Doppelkonzert mit Professor Kurt Masur zwischen der Alten und Neuen Welt zu erleben. New York und Leipzig! Vielleicht ein zweimaliges Silvester! Zweimal die Neunte! Open end!

Leben mit der Harmonie 1997 bis 2000

1997

Betriebsbesuche wurden als wesentlich und wichtig erkannt. Den Anfang machte in diesem Jahr der Besuch bei Leipziger Messedruck GmbH, deren geschäftsführende Gesellschafterin, Doris Günther, Mitglied der Harmonie, zu einer der meistfotografierten und -gefilmten Unternehmerinnen der Bundesrepublik Deutschland avancierte. Frau Günther, die mit ihrem großen Mut und ihrer herzlichen Art nicht nur ein Unternehmen gerettet hat, sondern es auch auf feste und zudem expandierende Füße stellte, gilt als älteste Jung-Unternehmerin Deutschlands. Glückwunsch, liebe Frau Günther!

Dass die Gesellschaft der Harmonie sich befleißigt, ihren Horizont weit zu fassen, zeigen zwei Veranstaltungen, die internationale Wirtschaftsverbindungen thematisierten: USA-Generalkonsul Patrick Truhn berichtete über die jüngste wirtschaftliche Entwicklung in seinem Heimatland.

Die Republik Frankreich stellte Generalkonsul Eugene Berg an einem weiteren Abend vor, was wieder einmal die Frage der Verquickung der französischen und der sächsischen Sprache auf den Plan rief, zum Beispiel der Ruf der Sachsen, besonders helle, nämlich, in unserem Dialekt, „fischelant“ zu sein…

Das Jahr 1997 war noch in anderer Hinsicht von Bedeutung für die Gesellschaft. Erstmals ging sie mit zwei Veranstaltungen über die Grenzen der Stadt hinaus.

Mitteldeutschland wird im künftigen viel stärker betonten Konzert der Regionen eine wichtige Schlüsselposition zuerkannt werden müssen. Dies erkennend, lud die Harmonie Vertreter dieses Raumes zu sehr aktuellen Wirtschaftsthemen ein.

Der Mitteldeutsche Wirtschaftstag „Verkehr“ am 14. Mai 1997 fand in Räumen des Flughafens Leipzig-Halle statt. „Aus- und Neubau der Verkehrssysteme in Deutschland nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit – insbesondere im Wirtschaftsraum Leipzig-Halle“, so das Thema von Claus-Dieter Stolle, Abteilungsleiter im Bundesverkehrsministerium, Bonn. Zahlreiche Statements und Gesprächsbeiträge (W. Chr. Steinbach, Regierungspräsident Leipzig, Norbert Wenner, Vorstandsvorsitzender MEAG, Halle, Dr. Arne Kolbmüller, Geschäftsführer Ingenieurconsult, Leipzig, Dr. Bernd Rohde, Leiter Straßenbau des Sächsischen Wirtschaftsministeriums) führten zu lebhafter Diskussion mit allen Teilnehmern im anschließenden Plenum.

Inzwischen ist der 1. Bauabschnitt der neuen Autobahn A 38 von Rippachtal bis Knauthain seit Ende 1999 in Betrieb. Man kann wohl mit einiger Sicherheit damit rechnen, dass die gesamte Südumfahrung Leipzigs zur Fußballweltmeisterschaft 2006 fertig gestellt ist.

Dass die rasante Entwicklung im Informations- und Telekommunikationsbereich eines intensiven Dialoges bedarf, zeigte der Mitteldeutsche Wirtschaftstag „Telekommunikation“ am 10. Dezember 1997. Er fand als Veranstaltung der Gesellschaft Harmonie in Kooperation mit dem Burg Gnandsteiner Gesprächskreis und dem Industrieclub Halle im Telekommunikationscenter der Globana Teleport GmbH in Schkeuditz statt. Neben der Darstellung des dringenden Handlungsbedarfs seitens der Wirtschaft sowie der öffentlich-rechtlichen Träger und Möglichkeiten einer technischen Umsetzung stand der Aufbau eines Mitteldeutschen Telematik-Netzwerkes im Mittelpunkt der Konferenz. Diese Initiative der Regierungspräsidenten von Leipzig, Halle und Dessau fand ihre Gründung im Rahmen der Computermesse „BIK ’97“.

Die Konferenz unterstützte nachhaltig das oben genannte Mitteldeutsche Telematik-Netzwerk, das seit 1998 in einer eigenständigen Rechtsform als eingetragener Verein arbeitet. Die Leitung und Moderation des Wirtschaftstages lag in den Händen von Regierungspräsident Steinbach, der gleichzeitig Sprecher der Projektgruppe Telematik in Mitteldeutschland war. Auch hier gelang mit prominenten Vertretern des Bundes- und des Sächsischen Wirtschafts-ministeriums sowie Vertretern aus Wissenschaft, Forschung und Entwicklung eine interessante Diskussion, insbesondere auch zur Nutzung dieses Potentials für mittelständische Unternehmen, einem immanenten Anliegen der Harmonie. Inzwischen hat sich ein Mitteldeutsches Telematiknetzwerk e.V. etabliert.

Die Reihe der Unternehmensbesuche setzte sich in diesem Jahr fort mit dem Einblick in eine intelligente Kreativ-Werkstatt, den die Agentur Jütte-Berger-Stawicki gewährte, sowie einer Besichtigung am Puls der Zeit: dem im Aufbau befindlichen Herzzentrum Leipzig.

Nach Zschepplin, am Rande der Noitzscher Heide gelegen, führte die gern besuchte Schlossfahrt mit einer Führung des Bürgermeisters und – wer mochte – zu ersten Erfahrungen des Golfens.

In strahlendem Glanz erlebte die Harmonie das äußerlich restaurierte Schloss Wiederau mit einem burlesken open-air-Konzert; die Wehrkirche Pomßen mit der Richter-Orgel und dem nur noch selten zu erlebenden originalen Zimbel-Stern (dabei müssen wir, wiewohl unkorrekt, immer an Bölls herrliche Geschichte mit dem „Frieden“ flüsternden Weihnachtsengel denken) war Schauplatz eines Benefizkonzertes unter Mitwirkung von Michael Pommer. Konzertant schloss das Jahr auch: mit J. S. Bachs Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche.

1998

Der Gesellschaft der Harmonie haftet, seit sie vor 225 Jahren im „Blauen Engel“ zu Gast war, ein Problem an: die Orte des Geschehens, die Gasthäuser, werden, wahrscheinlich systemimmanent, strengen Kriterien unterworfen. Mal ist es zu teuer, mal zu laut, mal ist die Bedienung unaufmerksam, seltener: es schmeckt nicht! – alles schon mal dagewesen! 1998 waren wir Gast im Paulaner Palais.

Wie schon 1996 Magnifizenz Prof. Cornelius Weiss war der neue Rektor der Universität ein hochinteressanter Gesprächspartner der Harmonie. Magnifizenz Prof. Volker Bigl stellte seinen Vortrag über die Zukunft der Universität Leipzig ganz in internationale Zu­sammenhänge und marktwirtschaftliche Überlegungen.

„Schön, dass ich nicht mehr studieren muss“, mag sicher mancher dabei gedacht haben, aber nun ernsthaft: Da bieten sich gerade durch internationale Verbin-dungen und Koop-Möglichkeiten fast unbegrenzte Forschungsformen und -ziele, eine interessante, eigene Welt mit ungeahnten weiten Entfaltungsmöglichkeiten…

Das gab es auch: Wasserstadt Leipzig: auf dem Kanal geschifft und hinterher eingekehrt! Herr Hermann von der Fa. Herold schipperte uns über Leipzigs Flüsse und Kanäle und schwärmte dabei über die wirtschaftliche und touristische Bedeutung der neuen Seenlandschaft im Südraum Leipzig, wenn diese einmal mit der alten Wasserstadt Leipzig verbunden sein wird.

Heute wissen wir, dass diese Vision längst Wirklichkeit wird. Der Cospudener See ist bevorzugtes Ausflugsziel der näheren und weiteren Umgebung. Die erste schiffbare Wasserverbindung zwischen Leipzig und Neuseenland wird, einschließlich Schleuse, etwa 2003 befahrbar sein. 2004 wird der Markkleeberges See Gäste aus nah und fern anlocken und hoffentlich für Costa Cospuda etwas Entlastung bringen.

Mit dem Neubau der Autobahn A 72 von Leipzig nach Chemnitz (und zurück!) wird auch der 2006 fertig gestellte Hainer See zwischen Rötha und Espenhain sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen – zumal dort ganz besondere Publikumsmagneten – wie eine Unterwasserwelt – geplant sind. Der Zwenkauer See, mit ihm ist etwa ab 2012 zu rechnen, wird neben einer Kanalverbindung zum Cospudener See hoffentlich noch eine weitere Attraktion bieten – nämlich eine als Seebrücke begeh- und bewohnbare Förderbrücke. Ein Förderverein, dem auch unser neuer Kammerpräsident, Herr Topf, angehört, bemüht sich um eine nachhaltige Finanzierung dieses Projekts. Die Zeit drängt ganz außerordentlich – wir wünschen dem Vorhaben durch Inspiration und Transpiration Erfolg! Dem Gesamtprojekt Neuseenland liegt die möglichst umfassende wasserseitige Vernetzung durch Kanäle zugrunde. Denn Wasser allein ist noch kein Standortvorteil – wenn aber einmal alle Seen von Leipzig und anderen Orten aus wassersportlich erreichbar sind, dürfte Neuseenland ein internationaler Knüller sein!

Der Versuch, J. S. Bachs Beschreibung der Stadt Leipzig (Oktober 1730), „ein sehr theürer Orth und eine wunderliche und der Music wenig ergeben Obrigkeit …“, zu widerlegen, gelang Herrn Dr. Girardet, Beigeordneter der Stadt Leipzig für Kunst und Kultur, an einem Informationsabend zumindest ansatzweise.

Bart Groot, der umtriebige Holländer, inzwischen Chef von DOW Deutschland, war zu Gast mit einer Schilderung seines Unternehmens, der BSL-Buna-SOW-Leuna GmbH. Die Restrukturierung des Chemiedreieck Buna-Böhlen-Leuna gehört zu den Erfolgsgeschichten der mitteldeutschen Wirtschaftsentwicklung nach der Wende. Das Industriegebiet Böhlen mit dem Neubaukraftwerk, dem BSL-Chemiekomplex, der Gießerei und weiteren Ansiedlungen gehört zu den industriellen Kernen der Region, die außerordentlich gepflegt werden sollten.

Die Leipziger Messe mit ihren vielfältigen Problemen kam durch Frau Dr. Wohlfahrt zu Wort, ebenso durch Generalkonsul Smirnow das neue Russland und dessen wirtschaftliche Probleme. Unsterblich: „Pension Schöller“ von der umwerfenden Boulevard-Bühne aufgeführt, im Cafe Riquet, und damit war wieder ein Jahr zu Ende.

1999

Die Polizei ist „dein Freund und Helfer“, wenn man den Worten von Polizeipräsident Lunau, der an einem Abend über Prävention und Sicherheit sprach, glauben darf. Wir sind Gäste im Hotel Renaissance, später im Hotel InterConti.

Ärgerlich für alle, die ihn versäumt haben: der Vortrag von Professor Christoph Michael Haufe: „Deutsche Identität – 10 Jahre Wiedervereinigung“.

Überrascht zeigte sich der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Wolfgang Tiefensee, von den zahlreichen Aktivitäten der Harmonie; und er stellte an einem weiteren Abend eindrücklich die „Wirtschaftsentwicklung Leipzigs“ dar.

Manchmal trafen sich die Freunde der Harmonie auch einfach nur, um miteinander ins Gespräch zu kommen, sich kennen zu lernen, so einige Male im „Kaffeebaum“.

Auch in diesem Jahr gab es wieder ein Sommerfest bei Steinbachs.

Eine Einladung in die SIEMENS-Fabrik mit einer Führung durch Herrn Professor Sankaran stellte einen weiteren Höhepunkt des Jahres dar. Beeindruckend die Roboter als Materialzubringer, die, wie von Geisterhand gezogen, ihre Aufgabe erfüllten. An diesem Abend sprach Wolfgang Knüpfer, Gründungsmitglied des Fördervereins für die Sanierung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, von der enormen Wichtigkeit des Denkmals für das Image der Stadt. Bei einer spontanen Spendenaktion kamen etwa 10.000 DM zusammen.

Die Kriminalkomödie „Fisch zu viert“ erfreute Herz und Gemüt und schließlich klang das Jahr wieder mit dem „Weihnachtsoratorium “ in der Thomaskirche aus.

2000

Generalversammlung im Januar mit Neuwahl des Vorstandes:

Vorsitzender: Walter Christian Steinbach, Stellvertreter: Bruno Schliefke, Mitglieder des Vorstandes: Doris Günther, Dr. Hans-Achim Schubert, Ingbert Blüthner-Haessler, Bernd Mühling.

Die Entwicklungen in der unmittelbaren südlichen Nachbarschaft der Stadt Leipzig lassen aufhorchen. Zu Lande und zu Wasser ist der Cospudener See beliebtes Ausflugsziel, der neu entstehende Markkleeberger See bietet gleichfalls Chancen für die umliegenden Kommunen und ihre zukünftig erwarteten Gäste. Kompetenter Gesprächspartner war eines Abends Markkleebergs Oberbürgermeister Dr. Bernd Klose.

Eine interessante neue Tradition wurde mit dem „Mitteldeutschen Fischessen“ begründet, das folgerichtig auf der Burg Wettin stattfand; und wieder einmal konnte Professor Chr. M. Haufe mit seinen überragenden Geschichtskenntnissen alle begeistern. Man war sich einig: Wenn es nach diesem fulminanten Vortrag zur Ausrufung der Republik Mitteldeutschland gekommen wäre, hätten alle zugestimmt, natürlich mit einem Präsidenten Haufe!

Das Bachfest 2000 bildete einen starken Schwerpunkt in diesem Jahr: Thomaskantor Professor G. Chr. Biller zeichnete Leitlinien der von ihm verantworteten künstlerischen Gesamtkonzeption nach, unterstützt von Herrn Dr. Girardet, Beigeordneter für Kultur der Stadt Leipzig, der Überlegungen zum Marketing der Stadt im Zusammenhang mit dem Bachfest vorstellte.

Als Gast der Siemens AG, Niederlassung Leipzig, und auf Initiative von Wolfram Thost, dem Leipziger Niederlassungsleiter, besuchte die Harmonie die EXPO 2000, wahrhaftig ein Jahr hunderterlebnis! Ein ganzer Tag stand zur Verfügung, um überwältigende und pfiffige Darstellungsformen der Länder anzuschauen, Stoff genug für anregende Gespräche.

Die glücklich erfolgte Renovierung der Thomaskirche konnte an einem weiteren bend in Augenschein genommen werden, zusammen mit dem Vergnügen einer sachkundigen Führung durch Professor Martin Petzoldt. Die gesamte Restaurierung der Kirche Johann Sebastian Bachs war die bedeutendste denkmalpflegerische Aufgabe im Regierungsbezirk Leipzig nach der Wende.

Musikalisch gab es noch zwei weitere Ereignisse: ein sublimes Gewandhauskonzert mit Werken von F. Mendelssohn-Bartholdy unter Stabführung von Gewandhauskapellmeister Professor Herbert Blomstedt. Im Mendelssohn-Haus in der Goldschmidtstraße traf sich danach die Harmonie, um den Maestro kennen zu lernen, der sehr informativ und einfühlsam auf Fragen, die ihm Walter Christian Steinbach stellte, antwortete. Hierbei wurde auch der alten Verbindungen der Gesellschaft zum Gewandhaus gedacht: Durch so genannte Armenkonzerte konnte bereits 1778 ein Teil der Eintrittsgelder der Gesellschaft Harmonie für ihre sozialen Zwecke zur Verfügung gestellt werden.

Nach fast sechs Jahren ihrer Wiedergründung erfolgte ein wichtiger Abend der Harmonie, ihre weiteren Zielstellungen beinhaltend. Dr. Frieder Schäuble und Professor Horst Neumann teilten sich in einen Vortrag mit Thesen und Vorschlägen, untergliedert in die private und die öffentliche Zielsetzung, die im Anschluss gemeinsam diskutiert wurden.

Dr. Schäuble gab noch einmal unter Zuhilfenahme der Satzungen die beiden Möglichkeiten der Gesellschaft zur Kenntnis: gesellige Runde zur Pflege der Kontakte und zu gelegentlichem finanziellem Engagement in sozialer und kultureller Hinsicht oder die Auseinandersetzung mit öffentlichen Themen mit einer öffentlichen Wirkung.

Sich zu ersterem bekennend, sprach er vom Vergnügen, sich in einem Kreis sympathischer Mitmenschen zu treffen und über Gott-und-die-Welt zu reden, gerade in einer Zeit, in der diese Kultur nicht allzu verbreitet ist. Neue Erfahrungen, vielleicht auch neue Erkenntnisse durch Themen oder Personen, denen man sonst nicht begegnen würde, Kontakte und Verbindungen, die bei privaten, beruflichen und geschäftlichen Problemen eine Lösung erleichtern helfen, sind einige Gründe, an einer privaten Zielsetzung, wie in den letzten Jahren gepflegt, festzuhalten. Die daraus folgenden strukturellen Konsequenzen hatten durchaus den Charakter von mahnenden Vorschlägen: etwa eine sinnvolle Begrenzung der Mitgliederzahl, durch neue Mitglieder das „Durchschnittsalter nicht jährlich um ein Jahr zunehmen“ zu lassen, das Mitspracherecht jedes Mitglieds bei der Aufnahme neuer Freunde… und was das Programm angeht: das Aufgreifen besonders aktueller Themen unter Nutzen des Wissens und der Erfahrungen des Mitgliederkreises.

Dr. Schäuble forderte auf, dringend nach einer längerfristig zu verfolgenden Aufgabe der Harmonie zu suchen, ein Anliegen, dem die Gesellschaft über Jahre dienen kann. Im sozialen oder kulturellen Bereich liegend, müsse dies eine Sache sein, mit der sich die Mitglieder identifizieren können.

Professor Neumann empfahl den Mitgliedern in seinem Vortrag, sich im weitesten Sinne für Kultur, Kulturdenkmale und geistig-kulturelle Traditionen der Stadt Leipzig zu engagieren. Preise und Förderstipendien im Bereich der Kunst könnten das Kulturangebot der Stadt fördern und deren Anziehungskraft stärken.

Er wies auf die Bedeutung der Tatsache hin, dass geistig-kulturelle Erziehung im Elternhaus beginnen muss. Die Versäumnisse durch Schule und Lehrer sind nur selten später auszugleichen. Darin ist auch eine der wichtigsten Ursachen für Intoleranz und zunehmende Gewaltbereitschaft zu suchen. Daher schlug er auch vor, sich einer Schule zuzuwenden, um mit Hilfe der Lehrerschaft und unserer Mitwirkung Eltern in dieser Frage beratend zur Seite zu stehen. Dabei sollten Nachhaltigkeit und Auswirkungen auf andere Erziehungseinrichtungen langfristig angestrebt werden.

Noch einmal Bachfest: auf Schloss Wiederau gab es in einer szenischen Aufführung mit der Hochschule für Musik und Theater, Leipzig, am Originalschauplatz die Kantate „Angenehmes Wiederau…“, BWV 30a, und die Kantate „Mer han een neue Oberkeet“, BWV 212, die so genannte Bauernkantate, und hierauf wieder festlicher Ausklang in Steinbachs Garten.

Dr. Volker Rodekamp, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums in Leipzig, stellte an einem weiteren Abend „Das Völkerschlachtdenkmal Leipzig als europäisches Friedensdenkmal“ vor.

Eine neue Erfahrung war eine Kunstauktion, zu der die Kulturstiftung der Stadt Leipzig, deren Präsident Walter Christian Steinbach ist, gemeinsam mit der Harmonie einlud. Die Förderung eines jungen Leipziger Künstlers war Ziel der Unternehmung, die im Kunstkaufhaus stattfand.

Mitten in sanften Weinbergen, mit Blick auf Meißen, liegt das Weingut Schloss Proschwitz. Hier gab es einen sehr vergnüglichen Abend mit allseits für sehr gut befundenen Weinen.

In der renovierten Thomaskirche wieder J. S. Bachs „Weihnachtsoratorium“, Kantaten 1 bis 3, zu hören, war ein besonderer Eindruck zum Jahresende. Auch die Harmonie engagierte sich mit einer Spende von 12.500 DM bei der Renovierung der Kirche und trug dazu bei, den Westeingang der Kirche fertig zu stellen.

Autoren der Geschichte der Harmonie – Brigitte und Walter Christian Steinbach (2001)